Zwangsprostitution in Indien und Nepal

 

Nepal ist eines der beliebtesten Reiseziele für Trecking-Freunde, Asienfans und Schnäppchenjäger. Doch hinter dem Vorhang liebevoller Gastfreundschaft und Bergsteigeroasen versteckt sich ein dramatisches Problem: Menschenhandel und Zwangsprostitution gehören bis heute zur Tagesordnung. Die Nichtregierungsorganisation Maiti Nepal tritt gegen die moderne Sklaverei ein. Ein Besuch bei Maiti.

64 Frauen, ein Schicksal. Sie alle wurden von Menschenhändlern verkauft und zur Prostitution gezwungen. Heute arbeiten sie als Beobachterinnen an Nepals Grenzen nach Indien und China, um andere Mädchen vor diesem Schicksal zu bewahren.

Einer dieser Grenzübergänge ist Sunauli. Ein kleines blaues Holzhaus steht dort. „Maiti Nepal“ ist auf der Vorderseite zu lesen. Zwei Mädchen sitzen im Innern an einem Schreibtisch. Gebeugt über eine Vielzahl an Zetteln. Die 19-jährige Besucherin lässt sich von der etwa gleich alten Grenzbeobachterin über die Gefahren von Menschenhandel und Zwangsprostitution in Indien aufklären. Immer wieder lächelt sie. Schüttelt den Kopf. Sie ist seit neun Tagen verheiratet. Ihr Mann wartet in Indien auf sie. Drei Cousins wollten das Mädchen gerade über die Grenze bringen, als sie von den Grenzbeobachterinnen der NGO Maiti Nepal gestoppt wurden. Die Grenzbeobachterin kontrolliert die Papiere. Zwei Mal, drei Mal. Hier scheint alles in Ordnung zu sein. Das Mädchen kann gehen. Erleichtert lächelnd verlässt sie das Holzhaus und geht mit ihren Cousins in Richtung Grenze.

Menschenhändler oder Bruder?

Auch die Grenzbeobachterin tritt nach draußen. Sie gesellt sich zu ihrer Kollegin an die Straße. Lange stehen sie dort. Sehen zu wie ein Bus voller Schulkinder, bis oben mit Stoffen beladene Rikschas, zwei von Kopf bis Fuß verschleierte Frauen und eine Kuh Richtung Grenze an ihnen vorbeiziehen. Kurz bevor sie das Tor nach Indien erreicht haben, werden sie von Grenzbeamten und –beamtinnen kontrolliert. Nur die Kuh darf dir Grenze ungestört passieren.

Vor dem großen Tor auf der nepalesischen Grenzseite bildet sich eine kleine Menschenmenge. Laute Stimmen sind zu hören. Ein Polizist hat eine Rikscha angehalten. Die beiden Fahrgäste – ein Mann (22) und ein Mädchen (18) – steigen ab und diskutieren mit dem Polizisten. Ein paar Passanten bleiben stehen, beobachten was dort passiert. Der Polizist ruft die in der Nähe stehende Grenzbeobachterin zu sich. Nach einem kurzen Gespräch bittet sie das Mädchen in das blaue Infohaus. Ihr Begleiter muss davor warten. Er fährt sich mit den Händen durch die Haare, spricht immer lauter auf die zweite Grenzbeobachterin ein. Verständigung ist hier schwierig. Er spricht Hindi, sie Nepali. Nach ein paar Minuten kommt das Mädchen strahlend aus dem Haus. „Die Papiere sind in Ordnung“, erklärt Prabha Khanal, Leiterin des Maiti Transit Homes in Bhairahawa, die das Geschehen überwacht. „Anscheinend sind die beiden Geschwister. Sie ist Nepalesin, er lebt in Indien. Sie besucht ihn dort für ein paar Tage.“

Stimmen die beiden Geschichten, haben die Mädchen mehr Glück als viele ihrer Landsleute. Rund 12.000 Mädchen werden jedes Jahr aus Nepal in indische Bordelle verkauft. Die Nichtregierungs-Organisation Maiti Nepal versucht das zu verhindern. Täglich observieren die Grenzbeobachterinnen von Maiti die Grenzen zwischen Nepal und Indien. Sie alle sind Opfer von Menschenhändlern gewesen. „Die Mädchen wissen genau, woran sie Menschenhändler und ihre Opfer erkennen“, sagt Prahba Khanal. „Ein klares Merkmal ist die Stimmung der Mädchen: Weinende und besonders euphorisch wirkende Mädchen, kontrollieren wir sofort.“ Auf jede Grenzbeobachterin kommen pro Jahr im Schnitt 50 Mädchen, die sie vor der drohenden Verschleppung retten kann.

„Der Mann hat mich auf jede Art und Weise benutzt“

Amita (Name von der Redaktion geändert) hatte weniger Glück. Die 32-jährige Nepalesin wurde im Februar 2013 von einem Menschenhändler nach Indien gelockt. Rajesh M. versprach ihr einen guten Job als Näherin, bei dem sie 20.000.000 Rupien (etwa 275.000 Euro) im Jahr verdienen sollte, und eine gute Schuldbildung für ihren damals etwa fünf Jahre alten Sohn Amir (Name von der Redaktion geändert). Die Realität sah anders aus. Statt Geldsegen und Zukunftsaussichten erwartete Amita ein Leben als Zwangsprostituierte.

Knapp ein Jahr lebte Amita im Haus eines wohlhabenden Inders. Jede Nacht musste sie mit ihm schlafen. War er befriedigt, kam sein Sohn an die Reihe. Hatte der Hausherr Gäste, musste sie auch diesen zu Diensten sein. „Der Mann hat mich auf jede Art und Weise benutzt“, erzählt Amita in der Maiti Hauptzentrale im Ortsteil Gaushala in Kathmandu, Nepal. Dort lebt und arbeitet sie seit zwei Jahren. Ihr Sohn geht in die Schule auf dem Gelände von Maiti. Nachdem die NGO Amita und Amir mit Hilfe der indischen Polizei befreien konnte, wurde der Menschenhändler Rajesh zu zehn Jahren Haft verurteilt. Amitas Peiniger ist bis heute straffrei geblieben.

„Ich fühle mich bei Maiti sicher“

Ähnlich wie Amita ist es auch Maya (Name von der Redaktion geändert) ergangen. Die 44 Jahre alte Nepalesin lebt und arbeitet seit neun Jahren als Kinderbetreuerin bei Maiti in Kathmandu. Nachdem ihr Mann sie mit zwei Kindern sitzen ließ, lernte sie Rameda kennen. Der Menschenhändler versprach ihr einen guten Job in Indien. 5.000 Rupien (knapp 69 Euro) sollte sie dort im Monat als Näherin verdienen. Statt in eine Näherei brachte Rameda Maya in ein Bordell in Bombay. Zwei Jahre blieb sie dort. Mit wie vielen Männern sie in dieser Zeit schlafen musste, weiß Maya nicht. Laut der Organisation pro familia hat jedes Mädchen, das aus Nepal in indische Bordelle verschleppt wird, mit rund 30 Männern pro Tag Sex. Kondome sind dabei Mangelware. Dafür muss Maya heute zahlen: Sie ist HIV positiv.

Nach ihrer Flucht aus dem Bordell wollte Maya nicht zurück nach Nepal: „Ich war Prostituierte und bin HIV positiv. Ich wollte meiner Familie nicht gegenübertreten“, sagt sie. Sieben Jahre blieb sie in Indien. Eine Mitarbeiterin von Maiti überzeugte sie schließlich, nach Nepal zurückzukehren und Kontakt zu ihren Eltern und Kindern aufzunehmen. Ihren Sohn und ihre Tochter hatte sie damals bei ihren Eltern gelassen. „Meine Familie verurteilt mich nicht für das, was mir zugestoßen ist“, sagt Maya mit glänzenden Augen. „Unser Kontakt ist gut, meine Familie kümmert sich um mich. Und bald werde ich zum zweiten Mal Großmutter.“ Trotzdem möchte Maya bei Maiti in Kathmandu bleiben. „Ich fühle mich hier sicher und bekomme eine gute ärztliche Betreuung“, sagt sie. Und was ist aus Rameda geworden? „Rameda war fünf Jahre im Gefängnis. Dann wurde er krank. Jetzt ist er tot“, sagt Maya und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Amita und Maya sind zwei von knapp 100 Frauen, die bei Maiti in Kathmandu Zuflucht gefunden haben. Auf dem, von einer hohen Mauer geschützten Gelände, leben aktuell außerdem rund 200 Kinder. Ihre Geschichten sind unterschiedlich: Gerettet aus Bordellen, Weisen, die auf der Straße aufgegriffen wurden oder Opfer häuslicher Gewalt. Einige sind gemeinsam mit ihren Müttern hergekommen oder hier geboren worden.

Frauen und Kinder schlafen getrennt – auch dann, wenn sie miteinander verwandt sind. Vier bis fünf Mädchen teilen sich ein Zimmer. Immer zwei schlafen in einem Bett. „Die Älteren kümmern sich um die Jüngeren“, erzählt Sabina Gurung, eine Mitarbeiterin von Maiti in Kathmandu. Jedes Kind hat hier eine Aufgabe im Haushalt. An der Wand vor der geräumigen Gemeinschaftsküche hängt eine große Tafel. Dort stehen die Namen und Aufgaben der Mädchen und Jungen geschrieben. Die Hauptaufgabe ist jedoch die Schule. Bis zur zehnten Klasse werden die Kinder auf dem Gelände der Organisation unterrichtet. „Wenn sie die zehnte Klasse abgeschlossen haben, können sie aufs Colleague gehen“, sagt Sabina Gurung.

Kinder als Sexsklavinnen

Ans Colleague denkt im Transit Home in Bhairahawa noch niemand. Sechs Kinder sind dort untergebracht. Das Schutzhaus bietet Platz für 30. Ein Mädchen (7) lebt seit ein paar Wochen hier. Sie wurde von ihrem alkoholabhängigen Vater misshandelt. Prahba Khanal zieht das Mädchen an sich. Die Kleine kuschelt sich sofort an den Bauch der Leiterin des Schutzhauses. Behutsam schiebt diese den Jackenärmel des Mädchens nach oben. Auf dem Unterarm sind schwere Verbrennungen zu sehen. Die Kleine dreht den Arm: Tiefe Narben prangen neben ihrem Ellbogen. „Messereinstiche“, sagt Prahba, „da ist der Vater einmal richtig durchgedreht.“

Während die Leiterin die Geschichte des kleinen Mädchens erzählt, schieben sich zwei weitere Mädchen wortlos an Prahba vorbei. „Die beiden haben wir aus einem Bordell in Delhi gerettet“, erzählt die ehemalige Lehrerin. Die Jugendlichen gehen rüber zu drei anderen Kindern, die schüchtern und still in einer Ecke sitzen. Sie zeigen ihnen, wie sie das Geschirr abwaschen und wegräumen müssen. Die drei sind gerade erst angekommen, berichtet Prahba. Gerettet aus einem Hotel in der Nähe, wo die Mädchen (9, 11 und 13) Männern zum Sex angeboten wurden.

Wie es für die geretteten Kinder weitergeht, entscheiden Prahba und ihre Mitarbeiter je nach Fall. „Wir versuchen immer erst die Eltern zu finden. Dann muss entschieden werden, ob die Kinder zu ihnen zurück können oder ob wir ihre Pflege übernehmen.“ In diesem Fall kamen die Kinder auf das Maiti Hauptgelände in Kathmandu, um dort in die Schule zu gehen und Teil der Maiti-Familie zu werden.

Infokasten:

Anuradha Koirala ist der Kopf von Maiti Nepal. Die Nepalesin kämpft seit 1993 mit ihrer NGO gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel. Neben der Grenzbeobachtung und den Häusern für gerettete Frauen und Kinder gehören zur Arbeit von Maiti auch Schulungsprogramme und Workshops. Für ihre Arbeit hat Anuradha Koirala bereits diverse Preise bekommen, unter anderem den Best Social Worker of the Year Award (1998), den Deutschen UNIFEM Preis (2007), den CNN Heroes Award (2010) und den Mother Teresa Award (2014).

 

Weitere Informationen zu Maiti Nepal finden Sie unter http://www.maitinepal.org

Veröffentlicht im KOMPASS – Print und online, März 2017.

 

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